von Hans-Jürgen Kotzur
Der Mainzer Dom gleicht derzeit einer großen Baustelle. Nicht nur die beiden Flankentürme der Ostchorgruppe sind eingerüstet, auch im Inneren wird rege gearbeitet. Wenngleich die Instandsetzungsmaßnahmen an den Türmen per se nichts Aufregendes darstellen und auch die Erneuerung der Domheizung wenig spektakulär erscheint, werden immer wieder unerwartete Entdeckungen gemacht. Solche Zufallsfunde tragen wesentlich dazu bei, daß sich der Wissensstand über die Baugeschichte und die Ausstattung des Domes ständig erweitert und die wissenschaftliche Erforschung des Bauwerkes fortschreitet.
Außenbau
Am Ostquerbau sorgte der Fund eines mittelalterlichen Gerüstbalkens und die Aufdeckung einer Baufuge mit einem Rest mittelalterlichen Putzes für große Aufregung. Inzwischen sind beide Funde
ausgewertet und erbrachten aussagekräftige Ergebnisse.
Der Balken, entdeckt in ca. 15 Metern Höhe in der Nordostwand des Ostquerbaus, wurde am 7. November 2001 von Jörg Walter, Steinmetz an der Dombauhütte, im Beisein von Dendroarchäologin Dr. Bauer aus Trier und Domkonservator Dr. Kotzur geborgen. Der 10 cm im Mauerverband zurückgesetzte Balkenkopf war ungleichmäßig erhalten, die untere Hälfte wies Brandspuren auf, die obere war stark erodiert. Der rund 60 cm lange Holzstumpf zeigte sich im hinteren Teil vermorscht und durch Schädlingsbefall stark zersetzt. Es war deutlich erkennbar, daß der ursprünglich vierkantig bearbeitete Balken in einem Mörtelbett lag, das den Balken ehemals vollständig umschloß. Dem Befund zufolge muß der Balken während der Bauzeit eingebracht worden sein. Der Schädlingsbefall im inneren und hinteren Teil des Balkenstumpfes ist ein Hinweis darauf, daß der Balken saftfrisch, d.h. kurze Zeit nach der Fällung, verbaut wurde - bei abgelagertem Eichenholz wird das Stammholz sehr hart, so daß sich der Schädlingsbefall im allgemeinen auf das weichere Splintholz und die äußersten Zuwachsschichten beschränkt. Das 12 cm lange Balkenstück wurde anschließend für die dendrochronologische Analyse vorbereitet, die Zuwachsfolgen wurden mikroskopisch vermessen. Den im Trierer Labor für Dendroarchäologie durchgeführten Untersuchungen zufolge muß der Baum, von dem der Balken stammt, im Winter 1125/26 gefällt und sogleich verbaut worden sein.
Putzbefund
Bei Steinarbeiten an der Ostfassade des Domes wurde von Steinmetz Walter in Höhe des vierten Turmgeschosses eine Baufuge zwischen Treppenturm und Ostquerhaus entdeckt und freigelegt. In dieser
seit 1126 zugemauerten Hohlstelle trat eine vom Querbau hinterschnittene Putzfläche zutage. Die Untersuchung des Fundes zeigte, daß kein Verstrich des Setzmörtels, sondern ein echter, erst beim
Abrüsten aufgebrachter Verputz vorliegt. Der 2 X 12 mm starke Auftrag folgt dem Mauerwerk und ergab eine leicht wellige Putzfläche. Auf der geglätteten Oberfläche, die leicht bewittert zu sein
scheint, befindet sich eine dünne graue Alterungsschicht. Farbige Fassungsreste sind nicht vorhanden. Es liegt auch keine eingeritzte Imitation eines Kleinquaders vor. Der helle Mörtel des Putzes
enthält einen mittleren bis hohen Bindemittelanteil und überwiegend mittelkörnige Sandzuschläge. Die Färbung ist deutlich gelbbraun getönt.
Beide Befunde ermöglichen erstmals präzisere Aussagen zur Baugeschichte der Ostteile des Mainzer Domes und seinem mittelalterlichen Erscheinungsbild. Allgemein wird angenommen, daß Ostchor und Mittelschiff noch vor der 1137 geweihten Gotthardkapelle vollendet waren. Stilistische Vergleiche lassen diesen Schluß zu. Vermutet wird ferner, daß der Ostchor vor dem Mittelschiff erbaut sein muß. Aufgrund des nun erfolgten Balkenfundes, der nachweislich aus den Jahren 1125/26 stammt, wissen wir nun, daß der Ostquerbau in seiner heutigen Form Ende der zwanziger Jahre fertiggestellt wurde. Das Langhaus-Mittelschiff dürfte dann im Anschluß erbaut worden sein.
Die erwähnten, neu entdeckten Putzreste befinden sich hingegen am Treppenturm, der noch aus der Zeit des Willigis-Bardo-Baus 1009 bzw. 1036 stammt. Sie erlauben erstmals Rückschlüsse auf das farbige Erscheinungsbild des Domes vor seinem Umbau in der Zeit Kaiser Heinrichs IV. nach 1100. Der Treppenturm zeigte nach diesem Befund glatte, weiße Putzflächen, die das Mauerwerk aus Bruchsteinen abdeckten. Lisenen und Gesimse aus rotem und gelben Sandstein beließ man in ihrer natürlichen Farbigkeit.
Innenbau
Im Laufe des Jahres 2002 wurde die Domheizung durch eine moderne, mit Fernwärme gespeiste Anlage ersetzt. Die alte, 1925/27 als Dampfheizung konzipierte und mit Koks betriebene Heizung war zwar
nach Erneuerung der Kesselanlage 1965 auf Öl umgestellt worden, genügte aber schon lange nicht mehr den heutigen Anforderungen. Bei dem Einbau der neuen Wärmestationen und Zuleitungen konnte auf
die alten vorhandenen Versorgungsschächte und Kanäle zurückgegriffen werden, so daß die baulichen Eingriffe unerheblich sind. Dennoch waren auch Ausschachtungsarbeiten notwendig, bei denen einige
interessante Entdeckungen gemacht wurden.
Auffindung farbiger Putzreste
Im Mittelschiffbereich wurden im Bauschutt historische Putzreste entdeckt und sichergestellt. Diese Fragmente, die z.T. Farbanstriche und Reste alter Bemalungen zeigen, können Aufschluß über die
einstige Farbigkeit des Mainzer Domes geben. Sie waren bei der großen Innenrenovierung 1925-28 in den Fußboden gelangt, als der alte Gewölbeputz erneuert und das Bodenniveau im Dom tiefer gelegt
wurde. Jetzt werden die Farbbefunde naturwissenschaftlich untersucht und ausgewertet und mit den kunsthistorischen Ergebnissen in der vor kurzem im Heft II/2002 Lebendiges Rheinland-Pfalz
veröffentlichten Geschichte der Raumbilder des Domes verglichen. Die Bedeutung dieser Fundstücke ist nicht hoch genug anzusiedeln, da der Mainzer Dom durch die allzu gründliche Renovierung der
zwanziger Jahre kaum weitere Farbbefunde aufweisen dürfte.
Die Gruft Lothar Franz von Schönborns.
Auch im hinteren Bereich des Westchores in unmittelbarer Nähe des Rokoko-Chorgestühls mußten für die neue Heizung Schächte vergrößert werden. Durch Zufall wurde dabei die Gruft des Erzbischofs Lothar Franz von Schönborn (+ 1729) entdeckt. Am 26. Juni 2002 stießen die Arbeiter auf eine Mauer aus Ziegelsteinen, hinter der sich ein Hohlraum befand. Nach Verständigung des Domkonservators durch das Dombauamt wurde die Bautätigkeit eingestellt und der aufgefundene Raum durch eine kleine Maueröffnung mit einer Lampe ausgeleuchtet. Es war ein bewegender Moment für alle Anwesenden, nach einem Zeitraum von über 270 Jahren in die unberührte Ruhestätte eines der großen Mainzer Erzbischöfe schauen zu dürfen. Sein Zinnsarg war in einem so guten Zustand, daß man den Eindruck gewinnen konnte, er sei erst vor wenigen Tagen hier aufgestellt worden. Der Sargdeckel war auf beiden Seiten mit Inschriften versehen. Auf der Südseite ist z.B. zu lesen:
D.O.M./Hic quiescit Corpus ... Lotharii Francisci ... nat. IIII Octob. MDCLV./... Electi Episcopi Bambergensis XVI. Nov./ MDCLXXXXIII.
Den Deckel des Sarkophags zierten ein Kreuz und das Wappen des Erzbischofs. Die Gruft wurde anschließend fotografiert und vermessen. Sie ist 1,5 m breit, 3,2 m tief und 2 m hoch. Die Innenwände sind weiß verputzt, ebenso die tonnengewölbte Decke. Auf der Westseite blieb ein unverputzter Mauerteil (ca. 80 x 60 cm) stehen. Diese Partie gab kurze Zeit Rätsel auf, doch kann die Bauabfolge im Jahr 1729 inzwischen lückenlos rekonstruiert werden. Zunächst wurde das Erdreich an der vorgesehenen Stelle ausgehoben und die Süd-, Ost- und Nordseite der Gruft zusammen mit dem Tonnengewölbe errichtet. Die Wände aus Ziegelsteinen wurden mit einem feinen Kalkputz überzogen; die Flachtonne ließ noch Spuren ihrer Holzschalung erkennen. Nach dem Einbringen des Zinnsarges durch die noch offene Westseite konnte im Anschluß die noch fehlende Westwand hochgezogen und verputzt werden. Die Arbeiter verließen die Gruft schließlich durch die bereits oben erwähnte 80 x 60 cm große Öffnung, die nun von außen her vermauert werden mußte und deshalb als einzige Stelle unverputzt blieb.
Die Arbeiter haben ihren Namen mit roter Kreide an die Wände geschrieben, sich gleichsam für die Nachwelt verewigt. Diese "Graffiti" waren noch gut zu lesen: Auf der Südseite stand "Caspar Meixender Asam Maurermeister", auf der Nordseite "Antoni Walch, Maurergesell". Nach Abschluß der Vermessungs- und Fotoarbeiten wurde die Gruft am 26. Juni 2002 wieder verschlossen.
Lothar Franz, Fürstbischof von Bamberg, Erzbischof und Kurfürst von Mainz und Erzkanzler des Reiches gilt als einer der großen Persönlichkeiten der Mainzer Kirche. Er starb am 30. Januar 1729. Am 21. Februar erfolgte die Bestattung im Mainzer Westchor. Sein Herz kam zunächst in den Bamberger Dom und nach der Säkularisierung nach Schloß Pommersfelden. In unmittelbarer Nähe seiner Gruft befindet sich - noch am ursprünglichen Platz hinter dem Chorgestühl - das für ihn 1745 errichtete Grabdenkmal. Den Entwurf lieferte der berühmte Baumeister Balthasar Neumann unter Mitarbeit des Würzburger Bildhauers Johann Wolfgang von der Auvera.
Alle hier skizzierten Zufallsentdeckungen sind für die Geschichte des Domes von unschätzbarem Wert. Abgesehen davon, daß eine neue Datierungsquelle erschlossen oder belegbare Aussagen zu einem bestimmten historischen Erscheinungsbild ermöglicht wurden: spannend war und ist vor allem die unmittelbare Konfrontation mit der Vergangenheit. Diese Begegnung läßt nicht nur die Herzen der Wissenschaftler höher schlagen, sie zieht auch den interessierten Laien in ihren Bann, ermöglichen solche Funde doch wie sonst selten einen authentischen Einblick in die wechselvolle Geschichte eines großartigen Bauwerks, das vielen Generationen als geistiger und kultureller Mittelpunkt galt und noch heute das Wahrzeichen der Stadt Mainz ist.